Andrea Violi

Gestaltungspädagogin iac


Portrait von Andrea Violi herunterladen

Andrea Violi ist überzeugt, dass Gestaltung Spielräume eröffnet, die sich nicht nur auf den Alltag übertragen lassen, sondern auch die Einstellung zum Leben verändern können. Sie leitet heute ein Kreativatelier, wo Menschen nach einer gesundheitlichen Auszeit Unterstützung beim Wiedereinstieg finden. Über ihre eigenen Erfahrungen mit dem gestalterischen Tun und Lernen erzählt sie in diesem Interview.



Vor der Ausbildung am iac


Was hast du gemacht, bevor du ans iac gekommen bist?
Meine erste Ausbildung machte ich in Kinder­krankenpflege. Danach war ich im Kinderspital auf einer Abteilung tätig, wo vorwiegend chronisch Erkrankte waren. Es entsprach mir sehr, dass wir dort sowohl auf der Beziehungsebene als auch kreativ wirken konnten. Später wurde ich Familienfrau und arbeitete daneben weiterhin in der Pflege. Das Gestalten hatte bei mir immer einen festen Stellenwert, gerade auch in der Familienzeit.

Was hat dich zur Gestaltungspädagogik geführt?
Ich wusste schon als ich in die Familienpause ging, dass ich danach beruflich nochmals durchstarten wollte. In meiner zukünftigen Arbeit mit Menschen sollte Gestaltung einen wichtigen Platz einnehmen. Bereits vor der Pflegeausbildung wäre Gestaltung eine berufliche Möglichkeit gewesen. Ich wählte damals den sicheren Weg, weil ich Angst hatte. Weil ich dachte: «Jeden Tag kreativ sein, das kann ich nicht. Vielleicht kommen plötzlich keine Ideen mehr!» Ich wollte das Gestalten nun wirklich noch einmal in Angriff nehmen und hoffte, dabei Antworten auf meine Fragen zu finden.




«Ich wählte damals den
sicheren Weg, weil ich Angst
hatte. Weil ich dachte, jeden
Tag kreativ sein, das kann
ich nicht. Vielleicht kommen
plötzlich keine Ideen mehr!»




Wie hast du herausgefunden, dass es Gestaltungspädagogik gibt?
Eine Freundin von mir hatte einen der ersten Gestaltungspädagogik-Lehrgänge am iac besucht, so wusste ich immer, dass es so etwas gibt. Als dann eine Zusatzausbildung spruchreif wurde, schaute ich mir die die Ausbildung genauer an. Nur schon die Unterlagen und die Vorbereitung fürs Einführungsseminar fixten mich an. Die bunte Mischung der Teilnehmenden am Einführungsseminar, die Kursleitung und die Herangehensweise passten mir. Die ständigen Irritationen und Perspektivenwechsel fand ich sehr anregend. Ich merkte: Von dieser Lehrperson kann ich so viel lernen – fürs Leben lernen!

Welche Ziele oder Träume hast du mit deiner Anmeldung verbunden?
Mein grosser Wunsch war es, eine Entwicklung in Gang zu bringen, in dem Bereich, in dem ich mich beruflich neu etablieren wollte. In einem Bereich, in dem ich meine vorhergehenden Erfahrungen aus der Langzeitpflege mit dem Gestalten würde kombinieren können. Es war auch ein gewisses Wagnis. Ich war 45, als ich mit der Ausbildung begann und hatte während zehn Jahren nicht mehr Vollzeit gearbeitet.


Während der Ausbildung


Wie hast du die ersten zwei Jahre mit den Grundlagenmodulen erlebt?
Ich genoss es extrem, in die diversesten Materialien abzutauchen, mich damit ausleben und einfach gestalten zu dürfen. Mehr und mehr merkte ich aber, dass es da auch noch um ganz andere Dinge ging – aber was das genau war, erschloss sich mir lange nicht. Mit den Werken, die Gestalt annahmen, nahm dann auch die Ausbildung langsam Gestalt an. Das Erkennen, was mir damit eröffnet wurde, entstand parallel dazu. Die Fachexpert*innen vermittelten uns mit viel Leidenschaft Wissen und Hintergründe zu den Werkstoffen. So stupsten sie vieles an. Zugleich mussten wir das meiste allein umsetzen. Im Tun konnten wir den eigenen Rahmen kennenlernen und erfuhren auch Möglichkeiten, ihn zu sprengen. Das kann man nicht referieren, das muss man erleben. Dieser autodidaktische Umgang mit den Themen, Materialien oder Techniken ist eine gelebte Kultur in der Gestaltungspädagogik. Davon konnte ich sehr profitieren, das brauche ich heute jeden Tag. In unseren regelmässigen Werkschauen waren wir dann gefordert zu verbalisieren, was beim Gestalten geschieht. Ich merkte, dass die Gestaltungsprozesse, die ich bisher nicht hinterfragt hatte, ganz unterschiedlich ablaufen, stellte fest, dass andere Menschen ganz anders funktionieren, andere Strategien und Ressourcen haben. Dieses Lernumfeld hat viel dazu beigetragen, dass sich mir zu zeigen begann, was es mit dem Gestalten auf sich hat.

Wie war das dritte Jahr für dich?
Ich habe das ganze Programm gemacht. Das habe ich als sehr streng erlebt. Man musste etwas Abschied nehmen vom total handlungsorientierten Vorgehen und konnte sich dafür vermehrt übergeordneten Themen widmen. Es gab nun auch Inhalte, die mir zu Beginn eher etwas fremd waren, zum Beispiel das digitale Arbeiten.

Inwiefern konntest du vom SVEB profitieren?
Von meiner leitenden Tätigkeit in der Pflege brachte ich einige Erfahrung mit, die Thematik war also kein Neuland für mich. Doch ich gewann viel Sicherheit. Ich bin sehr froh, habe ich den SVEB gemacht, denn ich kann auf vieles zurückgreifen und es täglich brauchen. Die SVEB- und iac-Ordner stehen alle hier im Regal und ich benutze sie oft!

Weshalb hast du dich für das Diplomjahr entschieden?
Ich wollte es mir gönnen, ein Thema ein Jahr lang intensiv verfolgen zu können. Dass das Projekt danach zur Ausstellung kommen sollte, hatte als Ziel eine Sogwirkung auf mich. Zugleich reizte es mich, der fundamentalen Frage nachzugehen, die mich damals von einer gestalterischen Grundausbildung abgehalten hatte: «Wie ist es, mich über längere Zeit mit einem Thema zu befassen? Kommt meine Kreativität irgendwann zum Stillstand?» Ich merkte dann schnell, wie Kreativität bei mir funktioniert: Es ist davon immer mehr vorhanden, als Zeit dafür ist.

Wie hat sich dein Projekt-Thema ergeben und entwickelt?
In einem Modul im dritten Jahr befassten wir uns mit dem Drucken. Das faszinierte mich. Ich experimentierte zuhause weiter und merkte, wie sich da ein riesiges Feld für mich auftat. Diesem Thema wollte ich vertieft nachgehen. Es war mir wichtig, mein gewähltes Thema experimentell zu verfolgen, es auch im Abarbeiten zu überprüfen und nicht nur im Generieren zu bleiben. Das wollte ich einmal erleben.

Wie ging es dir dabei?
Was das vierte Jahr ausbildungsmässig bedeutete, was sich mir da erst eröffnete, das hätte ich mir nie träumen lassen. Auch dieses Ausbildungsjahr entwickelte sich verblüffend anders, als ich es erwartet hatte. Ich merkte: «Voilà, jetzt erlebe ich das, was ich gelernt habe.» In den ersten drei Jahren hatte ich das Rüstzeug erworben und nun ging es wirklich an die Umsetzung. Komprimiert in dieses Jahr und komprimiert in diesen Projektauftrag. Die ganzen Inhalte der ersten drei Jahre, von denen ich gedacht hatte, ich wüsste, wie sie funktionieren, kamen nun ganz real auf mich zu. Ich hatte das vierte Jahr ja eigentlich für mich machen wollen und gemeint, dass ich nichts mehr lernen müsste. Dabei gab es noch einmal so viel zu erleben, herauszufinden, über meine Rolle zu lernen! Im Nachhinein gesehen war das vierte Jahr für mich extrem entscheidend.

Wie hast du den Prozess zur Ausstellung erlebt?
Ganz spannend war es, eine Deadline zu haben, das kannte ich im Zusammenhang mit Gestaltung gar nicht. Ich musste üben, mich einzuteilen. Der ganze Prozess war auch gruppendynamisch sehr lehrreich. Es galt, unterschiedliche Wahrnehmungen und Schwerpunkte zu vereinbaren, sachbezogen aufeinander einzugehen, wesentliche Entscheidungen zu treffen und auf unerwartete Gegebenheiten gestalterisch zu reagieren. Alle mussten für ihre Werke einstehen und argumentieren. Die intensive Aufbauwoche genoss ich dann sehr. Gemeinsam auf etwas hinzufiebern, zusammen etwas aufzubauen, einander dabei zu unterstützen, das war sehr schön. Die Ausstellung und den Event fand ich wirklich gelungen! Ich war auch sehr neugierig, denn ich hatte zuvor noch nie ausgestellt und hatte keine Ahnung, wie ich oder das Publikum darauf reagieren würde. Mein Werk veränderte sich durch die Inszenierung im Raum nochmals komplett. Ein weiterer ganz neuer Zugang ergab sich durch die Interaktionen mit den Besucher*innen. Es ging in diesem Moment nicht mehr um ein bewertendes Gefallen oder Nicht-Gefallen, sondern darum, wo Kommunikation entstehen konnte.

Welche Erfahrungen konntest du aus dieser Zeit mitnehmen?
Es ist der Drang, den Menschen, die zu mir ins Kreativatelier kommen, das erlebbar zu machen, was ich am iac erfahren habe. Das ergebnisoffene, nicht-wertende, beobachtende, perspektivenwechselnde Herangehen, das mir beim Gestalten so viel Spielraum geöffnet hat, hat sich übertragen auf meine ganze Lebenseinstellung. Es ist eine Haltung geworden. Das Wichtigste ist, nicht mehr so schnell im Werten zu sein, sondern im Beobachten zu bleiben und im Bespielen der Möglichkeiten, die auftauchen. Das ist etwas, das mein Leben stark verändert hat. Vieles hat sich beruhigt, ich kann beobachten und warten, was sich zeigt. Mein Wunsch ist es, diesen Erkenntnistransfer vom Gestalten ins Alltagsleben auch anderen Menschen als Möglichkeit anzubieten. In meinen Einführungen im Atelier sage ich oft: Es geht mir nicht um Resultate, die man in die Hand nehmen, nachhause tragen und an die Wand hängen kann. Es ist die Erfahrung, die zählt, das Erleben. Im Gestalten ist ein anderer Umgang mit Erwartungen und Ergebnissen, mit Beobachtungen und sich Ereignendem erlebbar.


Nach der Ausbildung am iac


Wie ging es nach dem iac für dich weiter?
Noch während des 4. Jahrs begann ich als Freiwillige in einem Aktiv-Treff von Fragile im Gestaltungsbereich zu arbeiten. Es war ein Hineinschnuppern, um zu sehen, wie sich das Gestalten im beruflichen Kontext für mich anfühlt. Heute bin ich Co-Leiterin des wöchentlichen Treffs.

Wir befinden uns hier an deinem Arbeitsplatz im Kreativatelier von Minira – wie ist es zu dieser Tätigkeit gekommen?
Mir war es besonders wichtig, eine Stelle zu finden, wo ich aus dem Vollen schöpfen kann. Auch weil es mich selbst nährt. Als ich die Ausschreibung für meine jetzige Stelle als Leiterin des Kreativateliers bei Minira sah, wusste ich: das wäre meine Traumstelle. Das Ziel bei Minira ist es, Menschen nach einer gesundheitlichen Auszeit beim Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu unterstützen. Ich hatte Glück: Es passte für beide Seiten. Es gab zwar bereits ein Kreativatelier, doch fehlte dazu ein Konzept. Ich hatte völlig freie Hand, das Konzept auf die Beine zu stellen. Mein Anliegen ist es, die Selbstermächtigung meiner Mandant*innen durch das gestalterische Tun zu stärken. Hier im Atelier geht es darum, wegzukommen von allem, was sonst bedrückt: zu erreichende Ziele, begrenzte Zeit, das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Hier sollen sie das Gegenteil erleben, Musse haben, entschleunigen, sich produktiv fühlen.

Kannst du mir an einem Beispiel erzählen, wie du hier arbeitest?
Eine Mandantin, die sich als «kopflastig» und «nicht kreativ» bezeichnete und «seit dem Kindergarten nie mehr einen Pinsel in der Hand gehabt» hatte, war doch neugierig genug, sich auf die Erfahrung einzulassen, dass Malen lernbar ist. Sie interessierte sich für die Malerei mit Acrylfarbe. Wenn ich merke, dass da ein Mensch ist, der an keine Vorerfahrung anknüpfen kann, setzen wir uns gerne gemeinsam hin, dann mache ich, probiere etwas, rede laut vor mich hin und die Mandantin macht einfach mit. Ich spreche dabei technische Umsetzungsmöglichkeiten oder auch das sinnliche Erleben an. Diese Mandantin hat an zwei Nachmittagen an ihrem Bild gearbeitet und konnte dabei völlig abtauchen. In der Abschlussrunde sass sie da und weinte. Sie sagte, dass sie sich wieder so unbeschwert gefühlt habe wie im Kindergarten. Alles andere sei abgefallen. Sie war sehr beglückt. Diese Mandantin kommt immer noch regelmässig ins Atelier. Darum geht es mir in erster Linie: Dass es hier ein Zeitfenster gibt, wo die Menschen etwas entdecken können, das sie in den Alltag transferieren können.




«Ich möchte den Menschen,
die zu mir ins Kreativatelier
kommen, das erlebbar machen,
was ich am iac erfahren habe.
Das ergebnisoffene, nicht-
wertende, beobachtende,
perspektivenwechselnde
Herangehen, das mir beim
Gestalten so viel Spielraum
geöffnet hat, hat sich übertragen
auf meine ganze Lebenseinstellung.
Es ist eine Haltung geworden.»





Wie sieht es mit deinem persönlichen gestalterischen Schaffen aus?
Es ist ein fliessender Übergang zwischen dem, was ich im Atelier tue, und dem, was ich zuhause mache. Oft knüpft das private Schaffen an Fragestellungen an, die uns im Atelier gerade beschäftigen. Dann packt es mich, einem Thema nachzugehen und herauszufinden, was da alles möglich ist. Ich bin weniger an einem ästhetischen Resultat interessiert, oder daran, welche Entwicklung sich in meiner Malerei abzeichnet, als an den Erfahrungen, die ich im Schaffen machen kann. Das Thema, das mich privat wieder zu begleiten begonnen hat, ist das Malen und Zeichnen im Bereich Akt und Portrait. Inzwischen bin ich nie mehr ohne Stift und Papier unterwegs. Auch da geht es mir nicht darum, zu Resultaten oder Umsetzungen zu kommen, sondern darum, den Moment des Abtauchens zu erleben, meine Ausdrucksmöglichkeiten kennenzulernen und zu entwickeln und mit Werk und Menschen in Beziehung zu treten.

Die Frage nach der Essenz: Was konntest du vom iac für deine aktuellen Tätigkeiten mitnehmen?
Definitiv das vorgelebte laufende Eröffnen von Optionen. Damit meine ich: den Blick aufmachen, wertfrei betrachten, immer wissen, dass es auch ein Dahinter-Schauen gibt. Wenn dies sich automatisiert einzustellen beginnt, geschieht der Transfer in eine veränderte Haltung. Dann bezieht sich diese Haltung nicht mehr nur auf die Gestaltung, sondern darauf, wie ich lebe.